Mehr als jede andere Erfindung hat das Schreiben das menschliche Bewusstsein verändert.
(Ong, S. 73)

Ohne Schrift kein Buchdruck, ohne Buchdruck kein Internet, aber auch kein Handel in großem Maßstab und keine Industrialisierung. Die Entwicklung der Schrift kann als Grundlage für die gesamte weitere Technologisierung der Menschheit angesehen werden. Wir können uns überhaupt nicht mehr vorstellen, wo wir heute ohne diese Kulturtechnik stehen würden. Daher wollen wir uns einmal ansehen, wann, wo und wie die Schrift „geboren“ wurde und wie es zur Entwicklung unseres Alphabets kam.

Unter einer Schrift versteht man ein kodiertes System sichtbarer Zeichen, mit welchem ein Schreiber den konkreten Wortlaut festlegen kann, den ein Leser wiederum entsprechend verstehen kann. Man kann Schrift aber auch ganz einfach als Wiedergabe gesprochener Sprache definieren. Bilder oder andere Zeichen, die als Bedeutungsträger verwendet werden, fallen zwar nicht unter diese Definitionen, sind aber dennoch für die Vorgeschichte der Schrift interessant. In Mesopotamien etwa wurden ab ca. 9.000 v. Chr. aus Ton geformte Zählsteine, sogenannte Tokens verwendet. Diese wurden in hohlen Tonkugeln, die Bullen genannt wurden, eingeschlossen, um nachträgliche Veränderungen zu verhindern. Damit man von außen sehen konnte, wie viele Tokens sich in einer Bulle befanden, wurde auf deren Außenseite Abdrucke der Zählsteine hinterlassen. Da die Zählsteine für bestimmte Gegenstände standen und daher unterschiedliche Formen hatten, wurden auf den Außenseiten der Bullen auch Zeichnungen dieser Gegenstände angebracht. Daraus entstanden schließlich Piktogramme, also abstrahiertere Abbildungen von Gegenständen. Mit dem Wachstum der Städte und der Zunahme wirtschaftlicher Vorgänge wurde der Verwaltungsaufwand immer größer und es musste mehr und genauer dokumentiert werden.

Wahrscheinlich hat dieser Bedarf zur Entwicklung der Keilschrift der Sumerer in Mesopotamien ca. 3.500 v. Chr. geführt. Dafür spricht jedenfalls, dass diese Schrift hauptsächlich für ökonomische und administrative Zwecke der städtischen Gesellschaften verwendet wurde. Noch ältere Schriftzeugnisse aus einem Zeitraum von 5.300 bis 3.500 v. Chr. stammen von der Vinca-Kultur im Donauraum. Deren Schreibsystem beeinflusste aber die weitere Schriftentwicklung nicht. Da das Bedürfnis, gesprochene Sprache durch dauerhafte Zeichen festzuhalten in vielen Kulturen bestand, wurden Schriften an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten – auch teils unabhängig voneinander – entwickelt. In Ägypten begann man um 3.000 v. Chr. mit dem Schreiben, wobei ungeklärt ist, ob die Idee aus Mesopotamien übernommen wurde. Nach ca. 500 Jahren entwickelten sich in Ägypten zusammenhängende schriftliche Äußerungen und damit auch Texte verschiedenen Inhalts – von religiösen über historische, juristische bis hin zu wissenschaftlichen und literarischen Texten. Je nach Genre wurden die Schriftzeichen unterschiedlich platziert und anfangs dienten Schriftstücke noch nicht dem Lesen, sondern der Wissensorganisation und als Erinnerungshilfe, etwa wie heute noch die Einkaufsliste. Später wurden Schreibflächen einheitlich in Spalten und Zeilen eingeteilt, was dazu führte, dass solche Texte auch tatsächlich (vor)gelesen werden konnten. Damit kam dem Schreiben nun auch die Funktion zu, mündliche Äußerungen schriftlich zu fixieren. Die in Stein gemeißelte Hieroglyphenschrift der Ägypter diente lediglich Repräsentationszwecken. Für administrative und andere Zwecke entwickelte sich aus der Hieroglyphenschrift die hieratische Schrift, die in der Regel mit Pinsel und Tinte auf Papyrusstreifen geschrieben wurde. Anfangs wurde von oben nach unten geschrieben, später in Zeilen.

Die ersten alphabetischen Schriften, das heißt Schreibsysteme, in welchen die Zeichen für Einzellaute stehen, entwickelten semitische Völker ca. 1.500 v. Chr. in Mesopotamien. Jedes Alphabet, das wir heute kennen, entstammt diesem ersten System, auch wenn man die Ähnlichkeit nicht mehr unbedingt erkennen kann. Damit auch das Alphabet der Phönizier, welches Mitte des 9. Jahrhunderts v. Chr. seine endgültige Form erreichte. Wohl in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. übernahmen die Griechen die phönizische Schrift und entwickelten diese weiter zum ersten Alphabet, das auch die Vokale aufzeichnete. Dadurch und aufgrund der wenigen Symbole, die für Alphabetschriften im Vergleich zu logographischen Schriften, bei welchen ein Zeichen für ein Wort steht, charakteristisch sind, war es leicht erlernbar. Es entfaltete daher eine demokratisierende Wirkung – prinzipiell konnte es jeder lernen, während piktographische Schreibsysteme wie z.B. das chinesische elitär waren. Auch hatte das griechische Alphabet den Vorteil fremde Sprachen wiedergeben zu können. Wie die Phönizier ritzten die Griechen die Zeichen mit Griffeln auf wachsbeschichteten Täfelchen ein oder schrieben mit Pinsel und Tusche auf Papyrus, Leder oder Tonscherben, anfangs ohne Worttrennung von rechts nach links. Grundsätzlich durfte jeder freie Bürger das Schreiben erlernen, wobei man bedenken muss, dass die freien Bürger nur einen Bruchteil der gesamten Bevölkerung der griechischen Stadtstaaten ausmachten. Bei den frühesten überlieferten griechischen Inschriften handelt es sich um öffentliche Bekanntmachungen. Ab dem 5. Jahrhundert wurden aber auch philosophische, historische, wissenschaftliche und literarische Texte verfasst. Über die Etrusker gelangte das griechische Alphabet zu den Römern, die es um Großbuchstaben ergänzten. So entstand schließlich das lateinische Alphabet, wie wir es heute in weiten Teilen Europas und der Welt nutzen.


Verwendete Literatur:

Güntner, Joachim & Janzin, Marion: Das Buch vom Buch. ³2007.

Ludwig, Otto: Geschichte des Schreibens in Günther Hartmut, Ludwig Otto u.a. (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. Bd. 1, 1 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft [HSK], Bd. 10,1). 1994. S. 48-65.

Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. ²2016.


Bild:
Oregon State University, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons


Ein interessantes Video auf Youtube zum Thema:
Schrift – Eine Bildform ?  Erfindung und Bedeutung der Schrift

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